Kieferorthopädische Indikationsgruppen

auch „KIG“ genannt dienen zur Einstufung des kieferorthopädischen Behandlungsbedarfs. Die Richtlinie beschreibt die Grundsätze der Befunderhebung, Diagnostik und Planung der im Einzelfall erforderlichen Therapie bei Kiefer- oder Zahnfehlstellungen. Bestandteil der Richtlinie ist ein Verzeichnis kieferorthopädischer Indikationsgruppen und Kriterien zu deren Anwendung.

Kriterien zur Anwendung der kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG)
Der Zahnarzt hat anhand der kieferorthopädischen Indikationsgruppen festzustellen, ob der Grad einer Fehlstellung vorliegt, für deren Behandlung der Versicherte einen Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse hat. Mit dem KIG-System soll der Zahnarzt bei der klinischen Untersuchung die Fehlstellung mit dem größten Behandlungsbedarf erkennen. Die kieferorthopädischen Indikationsgruppen (Befunde) sind in fünf Behandlungsbedarfsgrade eingeteilt. Nur bei den Graden 5, 4 und 3 hat der Versicherte einen Leistungsanspruch. Die Indikationsgruppen sind nach dem Behandlungsbedarf geordnet.
Die Fehlstellung mit dem am höchsten bewerteten Behandlungsbedarf zeichnet der Zahnarzt auf. Dabei ist die Indikationsgruppe und der Behandlungsbedarfsgrad anzugeben.
Bei einem Befund ab dem Behandlungsbedarfsgrad 3 gehören weitere Behandlungsbedarfsgrade ab 1 auch zur vertragszahnärztlichen Versorgung.

I. Grundsätzliches:

1. Die Bewertung und Zuordnung zu den Gruppen des kieferorthopädischen Indikationssystems (KIG) erfolgt unmittelbar vor Behandlungsbeginn.
2. Es wird immer die größte klinische Einzelzahnabweichung gemessen; d.h., die Kieferrelation ist nicht system-relevant.
3. Alle Messstrecken müssen in einer Ebene liegen; d.h., sie dürfen nicht dreidimensional verlaufen.
4. Alle Angaben erfolgen in mm.

 

II. Erläuterungen zu den einzelnen Gruppen:

A Lippen-Kiefer-Gaumenspalte bzw. andere kraniofaziale Anomalie

  • Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und syndromale Erkrankungen mit kraniofazialen Anomalien [z.B. Dysostosis cranio-facialis (Crouzon), Dysostosis cleido-cranialis (Marie-Sainton), Hemiatrophia faciei, Dysostosis mandibulo-facialis (Franceschetti)] führen in der Regel zu ausgeprägten Hemmungsmissbildungen bzw. Wachstumsstörungen und Anomalien der Zahnzahl, Verlagerungen etc., die einer komplexen kieferorthopädischen, häufig interdisziplinären Therapie bedürfen. Die therapeutischen Maßnahmen erstrecken sich oft über einen Zeitraum von vielen
    Jahren.
  • Zu den Fällen der Gruppe A zählen auch Patienten mit Morbus Down (Trisomie 21), wenn durch eine Therapie im Säuglings- und Kleinkindalter gravierende Funktionsstörungen, meist der Zunge, zu korrigieren sind.

U Unterzahl (nur wenn präprothetische Kieferorthopädie oder kieferorthopädischer Lückenschluss indiziert)

  • Bei vorhandenen oder zu erwartenden Lücken durch Zahnunterzahl infolge Nichtanlage oder Zahnverlust [aus pathologischen Gründen oder als Folge eines Traumas] kann sowohl ein prothetischer Lückenschluss als auch ein kieferorthopädischer Lückenschluss sinnvoll sein, um Zahnwanderungen, Kippungen, Störungen der statischen bzw. dynamischen Okklusion, Beeinträchtigungen der Funktion, Phonetik, Ästhetik und Psyche zu vermeiden.
  • Ist ein prothetischer Lückenschluss geplant, kann eine präprothetischkieferorthopädische Therapie indiziert sein, wenn erst durch die Korrektur der die Lücke begrenzenden Zähne eine korrekte prothetische Versorgung möglich ist. Nur in diesem Fall sind die Kriterien der Gruppe U erfüllt.
  • Ist ein kieferorthopädischer Lückenschluss vorgesehen, sind die Kriterien der Gruppe U nur dann erfüllt, wenn die vorhandene oder nach Verlust der Milchzähne zu erwartende Lücke behandlungsbedürftig und so groß ist, dass eine achsengerechte Einstellung der Zähne nur durch kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen möglich ist.
  • Supraokklusionen permanenter Zähne, die eine prothetische Versorgung antagonistischer Lücken erheblich erschweren oder unmöglich machen, sind in analoger Anwendung dem Indikationsbereich einer präprothetischen Behandlung (Gruppe U) zuzuordnen.

S Durchbruchstörungen (Retention/Verlagerung)

  • Unter einer Verlagerung ist eine Fehllage des Zahnkeims ohne realistische Chance zum Spontandurchbruch zu verstehen.
  • Eine Verlagerung von Weisheitszähnen rechtfertigt eine Einstufung in die Gruppe S nicht.
  • Eine Retention mit Einordnung in die Gruppe S liegt vor, wenn ein Zahn infolge einer zu starken Annäherung der Nachbarzähne nicht durchbrechen kann oder infolge eines Durchbruchshindernisses (z.B. Odontom, ankylosierter Milchzahn) nicht durchbricht. Ein Fall ist nicht in die Gruppe S einzustufen, wenn damit zu rechnen ist, dass ein retinierter Zahn – z.B. nach Reduzierung der Zahnzahl oder Entfernung eines Durchbruchshindernisses – spontan durchbricht und sich korrekt und ohne behandlungsbedürftige Restlücke in den Zahnbogen einstellt.

D Sagittale Stufe – distal

  • Die Messung der sagittalen Frontzahnstufe erfolgt in habitueller Okklusion in der
    Horizontalebene und orthoradial von der Labialfläche der Schneidekante des am
    weitesten vorstehenden oberen Schneidezahnes zur Labialfläche seines(r)
    Antagonisten.

M Sagittale Stufe – mesial

  • Die Messung der sagittalen Frontzahnstufe erfolgt in habitueller Okklusion in der
    Horizontalebene von der Labialfläche der Schneidekante des am weitesten
    vorstehenden unteren Schneidezahnes zur Labialfläche seines(r) Antagonisten.
  • Der Kreuzbiss eines oder mehrerer Frontzähne wird in Gruppe M, Grad 4 eingeordnet.

O Vertikale Stufe – offen (auch seitlich)

  • Es erfolgt keine Differenzierung zwischen dental und skelettal offenem Biss. Gemessen wird der größte Abstand der Schneidekanten bzw. Höckerspitzen voll durchgebrochener Zähne.
  • Infraokklusionen von Milchzähnen, Außen- oder Hochstände rechtfertigen eine Einordnung in die Gruppe O nicht. Gleiches gilt für den frontal bzw. seitlich offenen Biss, wenn Zähne sich noch im Durchbruch befinden. Infraokklusionen permanenter Zähne können in die Gruppe O eingeordnet werden.

T Vertikale Stufe – tief

  • Der vertikale Frontzahnüberbiss wird unterschieden in regulären Überbiss (bis 3 mm), tiefen Biss ohne bzw. mit Gingivakontakt sowie Tiefbiss mit traumatisierendem Einbiss in die antagonistische Gingiva.

B Transversale Abweichung – Bukkal- / Lingualokklusion

  • Es erfolgt keine Differenzierung zwischen dentalen und skelettalen Abweichungen.
  • Als Bukkal- bzw. Lingualokklusion wird der Fehlstand einzelner Seitenzähne oder Zahngruppen verstanden, bei dem sich die Okklusalflächen der Seitenzähne nicht berühren, sondern die oberen Prämolaren und/oder Molaren bukkal an den Antagonisten vorbeibeißen („seitliche Nonokklusion“, „seitlicher Vorbeibiss“), und zwar unabhängig davon, ob die oberen Seitenzähne nach bukkal oder die unteren nach
    lingual gekippt sind.

K Transversale Abweichung – beid- bzw. einseitiger Kreuzbiss

  • Es erfolgt keine Differenzierung zwischen dentalen und skelettalen Abweichungen.
  • Eine Zuordnung zur Gruppe K ist nur möglich, wenn am seitlichen Kreuzbiss auch permanente Seitenzähne beteiligt sind.
  • Eine Kreuzbisstendenz mit Höcker-Höckerverzahnung permanenter Seitenzähne (Kopfbiss) wird der Gruppe K, Grad 2 zugeordnet.

E Kontaktpunktabweichung, Engstand

  • Kontaktpunktabweichungen (Zahnfehlstellungen) werden zwischen anatomischen Kontaktpunkten gemessen.
  • Abweichungen zwischen Milch- und bleibenden Zähnen sowie Lücken werden nicht registriert.
  • Kontaktpunktabweichungen werden grundsätzlich in der Horizontalebene gemessen, das heißt die Approximalkontakte werden in diese Ebene projiziert. Dies gilt für alle Formen, d.h. Zahnhoch- und/oder Außenstände, Rotationen oder Engstände.
  • Ein Fall ist nicht in die Gruppe E einzustufen, wenn bei ausreichenden Platzverhältnissen damit zu rechnen ist, dass sich ein außerhalb des Zahnbogens durchgebrochener Zahn (z.B. nach Extraktion seines persistierenden Vorgängers) auch ohne apparative Maßnahmen korrekt in den Zahnbogen einstellt.
  • Infra- bzw. Supraokklusionen rechtfertigen keine Zuordnung zur Gruppe E.

P Platzmangel

  • Beträgt der Platzmangel zwischen zwei Zähnen neben einem noch nicht durchgebrochenen permanenten Zahn mehr als 3 mm, wird dieser Fall der Gruppe P zugeordnet, da in diesem Fall anzunehmen ist, dass der betroffene Zahn retiniert bleibt oder deutlich außerhalb des Zahnbogens durchbricht.
  • Im Wechselgebiss wird bei frühzeitigem Verlust von mehr als einem Milchzahn im selben Seitenzahnbereich der Messwert der Stützzonen herangezogen.
    [Stützzone = Raum für die seitlichen Ersatzzähne 3,4 und 5, gemessen von der distalen Kante des seitlichen Schneidezahnes zur mesialen Kante des Sechsjahrmolaren. Sollwertbestimmung unter Verwendung der Tabellen nach Berendonk oder Moyers.]
  • Bei einem Platzdefizit in der jeweiligen Stützzone über 3 mm wird dieser Fall der Gruppe P (Grad 3 oder 4) zugeordnet.
  • Ein Fall ist nicht in die Gruppe P einzustufen, wenn damit zu rechnen ist, dass ein noch nicht (oder außerhalb des Zahnbogens) durchgebrochener Zahn nach Reduzierung der Zahnzahl (Extraktionstherapie) spontan durchbricht und sich korrekt und ohne behandlungsbedürftige Restlücke in den Zahnbogen einstellt.